Abgeklärt

Yusif Nabie

Wer dem 34-jährigen Yusif Nabie aus Sierra Leone zum ersten Mal begegnet, kann schon mal auf die Idee kommen, dass der Afrikaner eigentlich ein Schwiegermutter-Typ ist: groß, gutaussehend, höflich und kultiviert. Doch das Bild bekommt schnell Risse, wenn man seine Lebensgeschichte erfährt.

Seine Mutter verlor Yusif schon im Alter von drei Jahren. Der Vater verstarb im Bürgerkrieg (1991 bis 2002, siehe Kasten). „Ich glaube, da war ich etwa sechzehn Jahre alt.“ So ganz genau kann er sich nicht mehr erinnern. Der kleine Yusif hatte noch weitere Begegnungen mit dem Tod: Von acht Geschwistern überlebten nur vier, sie starben teilweise schon bei der Geburt. Unabhängig von diesen Schicksalsschlägen führte die Familie bis zum Tod des Vaters in materieller Hinsicht ein gutes Leben: „Mein Vater war Diamantenschürfer und meine Mutter Verkäuferin. Wir hatten gutes Geld.“

Auch im Hinblick auf seine Schulbildung ist Yusif weitgehend zufrieden. Er absolvierte die Schule bis zum Ende der Junior Secondary School, dem zweithöchsten Schulabschluss in Sierra Leone. Die Probleme kamen gegen Ende der Schulzeit. Der verwaiste junge Mann musste selbst für sein Schulgeld aufkommen. „Ich habe nebenbei als Hilfsarbeiter bei Elektrikern, bei Bauern und auf dem Bau gejobbt. In verschiedenen Geschäften war ich als Packer tätig, der den Kunden seine Waren ins Auto getragen hat. Ich habe alle Arbeiten angenommen – Hauptsache, ich habe Geld verdient“, erklärt Yusif. Dabei wirkt er zunächst so unbeteiligt, als ob er von einer fremden Person erzählt. Doch schon ein Satz später kippt die Stimme, und ein leicht anklagender Unterton wird vernehmbar: „Manchmal war ich in der Schule ganz schön hungrig!“

Nach seinem Schulabschluss schien Yusif seine Lage im Griff zu haben: Als angelernter Elektriker ohne offizielle Ausbildung, aber mit viel Erfahrung verfügte er über genügend Geld, um sich eine passable Mietwohnung leisten zu können. Sein Leben war geordnet. Bis es eines Tages zu Auseinandersetzungen mit den „Crips“, einer gewalttätigen Straßengang, kam.

Gewaltbereite Feinde

Ein Streit innerhalb seiner Vermieterfamilie veränderte alles. Yusif hatte jahrelang wie vereinbart seine Miete an den ältesten Bruder der Familie bezahlt. Eines Tages kam der jüngere Bruder auf die Idee, dass Yusif die Miete an ihn abzugeben hätte. Damit waren weder der ältere Bruder noch Yusif einverstanden. Doch der kleinere Bruder gab nicht nach und wandte sich an seine Kumpels von den Crips. Die Männer der Straßengang waren nicht zimperlich und besuchten Yusif. Sie brauchten nicht viele Worte, um ihm ihre Forderungen zu verdeutlichen: Schläge mit der Machete waren ihre Form der Ansage. An dieser Stelle seiner Geschichte deutet Yusif stumm auf eine heute noch sichtbare Narbe, die quer über seinen Unterarm verläuft.

Nach diesem Vorfall hatte der junge Mann keine andere Wahl, als aus seiner Wohnung zu fliehen und bei einem Freund Schutz zu suchen, der in einer anderen Stadt wohnte. Es dauerte nicht lange, bis die Crips von seinem Versteck erfuhren. Insgesamt dreimal besuchten sie Yusif und bedrohten ihn und seinen Freund. Beim dritten Mal eskalierte der Streit so heftig, dass ein Mitglied der Straßengang ins Hospital gebracht werden musste, wo er seinen Verletzungen schließlich erlag. Dummerweise hatte der Initiator des ganzen Chaos, der jüngere Bruder der früheren Vermieterfamilie, Kontakte zu Regierungskreisen und zur Polizei. Und so kam es, dass Yusif nun nicht mehr nur die Straßengang, sondern auch die Polizei im Nacken hatte.

In dieser Situation blieb ihm nichts anderes übrig, als sich erneut an einem anderen Ort zu verstecken. Yusif floh in den Geburtsort seines Vaters. Hier wohnte auch sein Bruder, der allerdings schon kurze Zeit nach Yusifs Ankunft an Ebola zugrunde ging. Tragischerweise wurde der Geflüchtete dann bei der Beerdigung seines Bruders von seinen Feinden entdeckt. Erneut war ihm die Polizei auf den Fersen. Yusif sah keine andere Möglichkeit, als sein Heimatland zu verlassen und in das benachbarte Guinea zu verschwinden. Dort hielt er sich etwa ein halbes Jahr mehr schlecht als recht über Wasser. Dann kam ein Freund auf ihn zu und erzählte ihm, dass er mit seinen Erfahrungen als Elektriker in Libyen „ganz problemlos Geld verdienen“ könnte.

Ein falscher Freund

Der Fehler an diesem Plan bestand darin, dass der gute Freund nicht wirklich ein guter Freund war. Und wieder ist es verblüffend, wie abgeklärt und emotionslos der Mann aus Sierra Leone über diese Erfahrung berichtet: „Mein Freund war gleich am ersten Tag, nachdem wir in Libyen angekommen waren, verschwunden. Er hat meinen Rucksack und meinen Pass gestohlen und mich als Sklave verkauft.“ Zusammen mit etwa 50 Schicksalsgenossen arbeitete er ein Jahr ohne Lohn, ohne ausreichende Versorgung mit Essen und ohne ein Dach über dem Kopf: „Wir mussten im Freien schlafen.“

Nachdem Yusif erfahren hatte, dass von einem kleinen Hafen im Nachbardorf regelmäßig Boote nach Italien übersetzten, schlich er sich eines Nachts aus dem Arbeitscamp davon. Mit viel Glück gelang es ihm, sich im allgemeinen Gewusel ohne Geld an Bord eines Bootes zu schmuggeln. Und so kam es, dass er 2016 in Italien landete und dort von der örtlichen Polizei durch die Abnahme seiner Fingerabdrücke als Flüchtling registriert wurde. In dem kleinen Ort, in dem er untergebracht war, schlug ihm offene Abneigung entgegen. „Die Italiener waren nicht freundlich zu uns. Für die 20 Tage, die ich dort verbrachte, hatte ich nur einen Satz Kleidungsstücke erhalten.“

Ein echter Freund

In dem Dorf, wo Yusif untergebracht war, traf er einen Freund aus Gambia, der meinte, dass Deutschland ein besseres Land für ihn sein könnte. Glücklicherweise handelte es sich dieses Mal um einen echten Freund, der ihm eine Zugfahrkarte nach Freiburg kaufte. Nach zwei Tagen in Freiburg wurde er dann kurzfristig in das Heidelberger Patrick Henry Village, einer ehemaligen Siedlung für amerikanische Soldaten, verlegt. Die nächste Station war München Kieferngarten, wo Yusif in einem sogenannten Learn-Work-Gebäude eine Kurz-Ausbildung als Elektriker absolvierte. Es folgten sechs Monate Unterkunft in Fürstenfeldbruck, bis er schließlich in Odelzhausen untergebracht wurde. Über die Vermittlung der Arbeitsagentur hatte er hier Gelegenheit, in einem Kurs erste Grundzüge der deutschen Sprache zu erlernen. „Ich war sehr froh darüber, dass mir eine Frau aus dem Helferkreis zusätzlich Nachhilfeunterricht gegeben hat.“ Auch bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz zum Elektriker war der Helferkreis aktiv tätig.

Und wie steht es um seinen Asylantrag? „Sie haben mir meine Geschichte nicht geglaubt. Aber der Asylantrag liegt gewissermaßen auf Eis: Bis zum Ende meiner Ausbildung darf ich hier bleiben.“ Und wie soll es dann weitergehen? Der Mann mit der Figur eines Sportlers reagiert mit einem Schulterzucken: „Ich werde sehen, was kommt.“

Claus Ritzi

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Notizen zu Sierra Leone

Das prägendste Ereignis in der jüngeren Geschichte Sierra Leones war der von 1991 bis 2002 andauernde Bürgerkrieg. Während dieser Zeit kämpfte die Revolutionary United Front (RUF) gegen regierungstreue Milizen und zeitweise auch gegen die Armee. Die Motive der RUF waren zumindest zu Beginn der Kämpfe nachvollziehbar: In Sierra Leone war Korruption an der Tagesordnung. Das rohstoffreiche Land wurde in einem Zusammenspiel der Regierung mit internationalen Unternehmen ausgeplündert. Die Bevölkerung litt teilweise unter existenzieller Armut und die Jugendarbeitslosigkeit war sehr hoch. Als die RUF jedoch Mitte der 90er Jahre militärisch und politisch immer mehr in die Defensive geriet, wurden die Rebellen zunehmend brutaler. Um beispielsweise eine für 1996 angesetzte Wahl zu boykottieren, begannen sie, Zivilisten Arme und Hände abzuhacken. Nach dem Krieg gelang es der UN, ein Entwaffnungs-, Demobilisierungs- und Reintegrationsprogramm durchzuführen. Obwohl es unterschwellig immer noch etliche Konflikte gibt, gilt der international begleitete Wiederaufbau von Sierra Leone als relativ erfolgreich.