Heimatlos

Patrick Abraham

Auf den ersten Blick wirkt Patrick Abraham wie ein ganz normaler, fröhlicher junger Mann: Sein Gesichtsausdruck ist offen und unbeschwert. Wer sich jedoch ein wenig länger mit ihm unterhält, spürt deutlich, dass es da noch eine ganz andere Seite – ein tief verletztes und abgekämpftes Ich – gibt.

Patrick wurde 1988 in Ebonyi, einer Region im Südosten Nigerias, als Sohn von Obsthändlern geboren. Schon 2009 verließ er zusammen mit einem seiner vielen Brüder Nigeria. Warum gibt ein 21-Jähriger seine Heimat auf? „Ich bin Christ. Die Mehrheit in Nigeria sind Muslime. Sie unterdrücken uns.“ Dann erwähnt er wie beiläufig die islamistische Terrororganisation Boko Haram und die Scharia. „Ich brauche meine Freiheit. Wenn ich beispielsweise in Nigeria ein Bier trinken möchte, kann es mir passieren, dass mir die Hand abgehackt wird, weil es verboten ist.“

Beinahe gelangweilt erzählt Patrick, dass er in dem Land, in das er geboren wurde, bei vielen Protestaktionen dabei war und als Mitglied der Bewegung „Indigenious People of Biafra“ für den unabhängigen Staat Biafra (s. Kasten) gekämpft hat. „Ich habe gesehen, wie unsere Leute getötet und unsere jungen Mädchen vergewaltigt wurden.“ Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Nigeria ist nicht meine Heimat. Ich habe zwar einen nigerianischen Pass, aber ich bin kein Nigerianer und ich möchte nie mehr dahin zurück.“

Bürger eines Staates, den es nicht gibt

Im Grunde seines Herzens fühlt sich Patrick vielmehr als Bürger Biafras. „In Nigeria kannst du so etwas aber nicht laut aussprechen. Wenn ich dort öffentlich äußern würde, dass ich mich als Biafraner begreife, kann es sein, dass sie mich töten.“ Während Patrick sein Problem schildert, schaut er einem so eindringlich ins Gesicht, geradezu als ob er sagen wollte: Verstehst du jetzt endlich meine Situation? Dann folgt ein kleines Loblied auf die Demokratie in Deutschland, wo er schon in München, Stuttgart und Hamburg für „sein“ Biafra friedlich demonstrieren konnte.

Natürlich hat der Mann, der in Deutschland „Chancen“ für sich sieht, auch schon negative Erfahrungen mit seinem Gastland gemacht: Gleich zweimal wurde sein Asylantrag abgelehnt. Murrend sagt Patrick: „Sie glauben mir meine Erlebnisse in Nigeria einfach nicht. Und ich habe keine Beweise – woher auch?“ Sein Blick geht in die Ferne: „Ist es normal für sie, dass wir in Nigeria von der Polizei und den Soldaten bedroht werden? Ist es normal, wenn Leute getötet werden? Für mich ist das alles schrecklich.“ Es schwingt ein wenig Wut in seiner Stimme mit, als er resümiert: „Ich brauche das nicht!“ Ob er noch in irgendeiner Form Verbindungen zu Nigeria hat? „Ich war seit 11 Jahren nicht mehr in Nigeria und werde auch nie mehr zurückkehren. Zu wem denn? Mein Vater ist gestorben und in welcher Stadt meine Mutter wohnt, weiß ich nicht. Zu meinen Brüdern habe ich keinen Kontakt mehr.“

Instabile Gegenwart, ungewisse Zukunft

Und wie ging seine Lebensgeschichte weiter nach der Flucht aus Nigeria? Zwei Jahre verbrachte er in Libyen, wo er sich als Maurer durchschlug. Dass Libyen als mehr oder weniger gescheiterter Staat (failed state) kein idealer Aufenthaltsort ist und einem jungen Mann keinerlei echte Zukunft bieten kann, ist klar. Also flüchtet Patrick auch aus diesem Land und schafft es 2011 nach Italien, wo ihm Asyl gewährt wird. Bis 2015 lebt er ohne Arbeit in Padua. Dann reist er 2015 über Österreich nach Deutschland, wo er nach ein paar kleineren Zwischenstationen in der Containersiedlung in Odelzhausen landet. Der Helferkreis sorgt dafür, dass er dreimal pro Woche eine Schule besuchen kann. Patrick findet „Deutsch lernen gut, aber ich brauche auch eine Arbeit, das ist besser für mich.“ Besser jedenfalls als das, was er in seiner freien Zeit macht: „keine Schule, schlafen, bisschen lesen, Musik hören“. Sein etwas unbeholfenes Lächeln sagt: Was sollte ich sonst tun? Jeder weiß: Langeweile kann einen Menschen zermürben.

Wie siehst du eigentlich deine Zukunft, Patrick? Er zückt einen Ausweis. Dieser ist mit der Überschrift „Aussetzung der Abschiebung (Duldung)“ versehen. Es sind nur noch ein paar Wochen, bis das Dokument seine Gültigkeit verliert. Ja und dann, was machst du dann? „Ich hoffe, dass sie den Ausweis wieder verlängern. Falls sie es nicht tun, reise ich in ein anderes europäisches Land. Vielleicht Spanien.“ Patrick zuckt resigniert mit den Schultern. Spätestens jetzt wird deutlich, dass in dem charmanten, gut gelaunten jungen Mann auch ein mittlerweile ziemlich ausgelaugter Fatalist steckt.

Claus Ritzi

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Notizen zu Biafra

Am 30. Mai 1967 wurde Biafra als selbstständiger Staat im Südosten Nigerias ausgerufen. Es kam zu einem dreijährigen Krieg, nicht zuletzt weil Nigeria aus ökonomischen Gründen nicht auf die erdölreiche Region verzichten wollte. Dieser Krieg ging als einer der grausamsten Konflikte Afrikas in die Geschichte ein. 1970 war die Idee vom unabhängigen Staat Biafra gescheitert: Der überwiegend von Christen bevölkerte Südosten ist seitdem offiziell wieder Teil Nigerias. Die vorherrschende Religion Nigerias ist der Islam. Schätzungen gehen davon aus, dass in diesem Krieg zwischen 500 000 und drei Millionen Menschen ihr Leben verloren haben.

Für viele junge Menschen lebt der Traum von Biafra jedoch noch heute. Sie sehen sich als Christen von der Regierung massiv benachteiligt und sind in der Bewegung „Indigenous People of Biafra“ organisiert. Ihr Führer Nnamdi Kanu fordert unverdrossen die Unabhängigkeit der Region. Seit 2017 gilt seine Organisation in Nigeria als terroristische Vereinigung.