Ich will mich integrieren!

Tetiana und Sascha

Wenn die 41-jährige Ukrainerin Tetiana Zakharchenko vom Kriegsbeginn in ihrer Heimat erzählt, erinnert sie sich vor allem an die Diskussionen ihrer Landsleute vor dem Angriff der Russen: „Alle fragten sich, ob es zu einem Krieg kommen könnte oder nicht.“

Sie selbst war, wie die Mehrheit der Ukrainer davon überzeugt, „dass es in unserer modernen Welt keinen Krieg geben wird.“  Während Frau Zakharchenko diese These nach einem nun monatelang andauernden Krieg ausspricht, wirkt sie dabei für einen Moment immer noch, als ob sie die Realität in ihrer Heimat nicht begreifen könnte. Doch dann fasst sich die schwarzhaarige Frau wieder und gibt nüchtern zu Protokoll, wie sie den Beginn des Krieges erlebt hat: „Es war am 24. Februar morgens kurz vor fünf Uhr, als ich von den Geräuschen zweier in der Ferne einschlagenden Bomben geweckt wurde. Ich konnte es kaum glauben und war entsetzt.“ In ihrem kleinen Haus im Zentrum von Odessa lebte die geschiedene Frau Zakharchenko bis dahin glücklich und zufrieden zusammen mit ihren Eltern und ihrem neunjährigen Sohn Sascha. In den folgenden Tagen konnte sie beobachten, wie sich ihr kleiner Junge immer mehr vor dem Bombenlärm fürchtete. „Ganz am Anfang des Krieges dachten wir, dass der Terror höchstens ein bis zwei Wochen dauern würde.“ Als die junge Mutter dann aber im Fernsehen immer mehr Kriegsreportagen auch mit Bildern von getöteten Kindern sah, wurde ihr schlagartig klar, dass sie ihren Sohn schützen und die Ukraine verlassen muss. Der Entschluss hing auch damit zusammen, dass ihr Haus nicht unterkellert war und in ihrem Wohngebiet kein Bunker war.

Da Frau Zakharchenko im Fernsehen auch die Menschenmassen sah, die versuchten am Bahnhof die Züge zu stürmen und darüber berichtet wurde, dass in dem Gewühle auch etliche Kinder verschwunden waren, kam eine Zugfahrt für sie nicht infrage. Am 4. März war es dann so weit: Freunde ihrer Schwester boten ihr um 16 Uhr zwei Plätze in ihrem Auto an. Da ab 19 Uhr niemand mehr auf der Straße sein durfte und sie etwa eineinhalb Stunden Zeit brauchte, um zu diesen Freunden zu kommen, fiel die Entscheidung äußerst schnell. Die Ukrainerin packte in Windeseile die notwendigsten Dinge für sich und ihren Sohn ein und wurde von ihrer Schwester zum vereinbarten Treffpunkt gefahren.

Chaos an Grenzen

Zusammen mit anderen Frauen und Kindern begann dann die Flucht in vier Fahrzeugen. „Aus Angst vor Angriffen, haben wir Zettel an die Innenseite der Autofenster geklebt, auf denen wir darauf hinwiesen, dass sich Kinder in den Fahrzeugen befanden,“ erinnert sich Frau Zakharchenko. Das erste Ziel war die Stadt Kagul in Moldawien. Die Fahrt dauerte lediglich drei Stunden, „aber das Gedränge an der Grenze war unglaublich. Es dauerte neun Stunden, bis wir die Grenze überqueren konnten.“ Die erste Nacht verbrachten die Flüchtlinge in einer Sammelunterkunft auf Matratzen, die im Flur ausgelegt waren. „Ich fühlte mich in dieser Nacht sehr verloren, zumal ich ja keinen Plan hatte und überhaupt nicht wusste, wo ich mit meinem Sohn hinsollte.“ Nach reiflichen Überlegungen entschied sie sich zusammen mit ihrer Schwester nach Deutschland zu fahren, weil sie im Internet Berichte gelesen hatte, dass „dort hilfsbereite Menschen sind.“

Die Fahrgemeinschaft zerstreute sich: eine Familie wollte nach Italien, eine andere nach Rumänien und eine dritte entschied sich für die Niederlande. Das Internet war auch für die nächsten Zwischenstationen ein hilfreiches Medium: Hier wurde die kleine Fluchtgruppe auf ein Hotel in Rumänien aufmerksam, das Flüchtlingen eine kostenlose Übernachtung anbot.

Eine Frau aus Bukarest hatte im Netz ebenfalls eine Übernachtungsmöglichkeit offeriert. Also war das das nächste Etappenziel. Bei deren Freundin wiederum konnten sie eine weitere Nacht in einem kleinen Dorf verbringen.

Die Tour ging weiter nach Ungarn. Hier wurden sie für zwei Nächte von einer Familie in der Nähe von Budapest aufgenommen, bevor die Flüchtlinge nach Wien fuhren. In der Zwischenzeit war die kleine Fluchtgruppe auf ein Hilfsprogramm im Internet aufmerksam geworden: Wer sich hier registrieren ließ, bekam eine bestimmte Anzahl an Coins zugeteilt, mit denen man Hotels in der ganzen Europäischen Union bezahlen konnte. „Wir konnten auf diese Weise ein Hotel in Wien und in München das Hotel Meridian in der Nähe vom Hauptbahnhof leisten.“ In München gab es ein Büro, wo Flüchtlinge in langfristigere Wohnunterkünfte vermittelt wurden. „Die Schlange vor diesem Gebäude war unendlich lang und für meinen Sohn war die Warterei sehr hart,“ erinnert sich Frau Zakharchenko.

Glücklicherweise hatte sich eine junge kinderlose Familie aus Odelzhausen gemeldet, in deren großem Haus ein Zimmer für Sascha und seine Mutter und ein Zimmer für ihre Schwester bereitstand. „Allen Menschen, die uns geholfen haben, sind wir unendlich dankbar“, sagt Frau Zakharchenko und fährt lächelnd fort: „aber diese junge Familie hat so unendlich viel für uns getan: Sie sind mit uns zu den Ämtern und zum Job Center gefahren, sie habe uns geholfen Formulare auszufüllen und haben uns zu Grillabenden eingeladen.“

Das Trio lebte etwa drei Monate bei dieser Familie. Frau Zakharchenko, die in dieser Zeit schon anfing, Deutschkurse zu besuchen, war sich von Anfang an bewusst, dass man diese Gastfreundschaft nicht ewig in Anspruch nehmen konnte: „Wir waren ja keine Verwandte dieses wahnsinnig netten Pärchens.“

Bürgermeister hilft

Weil sie wussten, dass der Bürgermeister von Odelzhausen vielen ukrainischen Flüchtlingen half, fragten sie, ob er eine Lösung für ihr Wohnungsproblem hätte. Bürgermeister Markus Trinkl fand für sie dann eine Wohnung in der Hauptstraße, die zur Unterbringung von Flüchtlingen vom Landratsamt angemietet worden war.

Außerdem organisierte Herr Trinkl einen Sprachkurs, der von einer russisch- und deutschsprechenden Lehrerin geleitet wurde. Diesen Kurs besuchten die beiden erwachsenen Ukrainerinnen zusammen mit etwa 15 Landsleuten bis Ende August. „Seit September lerne ich täglich fünf Stunden deutsch im Integrationskurs. Mein Ziel ist es, sehr gut deutsch sprechen zu können und eine gute Arbeit zu finden“, sagt Frau Zakharchenko. Vor ihrer Flucht hatte die studierte Ökonomin in ihrer Heimat als Recruiterin gearbeitet. Und auch in Deutschland war sie bis zum Beginn ihres Integrationskurses im Rahmen eines Mini-Jobs im Kinderheim „Die Wiege“ in der Hauswirtschaft tätig. „Das war super: Erstens konnte ich meine Deutschkenntnisse vertiefen und zweitens haben mich alle Kollegen und Kolleginnen unterstützt und haben nachgefragt, ob wir etwas brauchen.“ Tatsächlich wurde sie angefangen von Spielsachen bis hin zu einem gebrauchten Trockner großzügig beschenkt. „Die Deutschen sind sehr gute Menschen“, fasst Frau Zakharchenko ihre Erfahrungen zusammen.

Sorgen bereitet ihr in erster Linie die Entwicklung ihres Sohnes Sascha. „Am Anfang wollte er kein Deutsch lernen und nur zurück zu seinen Großeltern, dem Hund und den Freunden.“ In der Zwischenzeit hat er in Odelzhausen einen ukrainischen Freund gefunden. Aufgrund von Sprachschwierigkeiten wurde Sascha jedoch von der vierten in die dritte Klasse zurückversetzt. „Und das, nachdem er gerade auch in der vierten Klasse ein paar Freunde kennengelernt hat“, seufzt seine Mutter und ergänzt, „ich verstehe, dass es hart für ihn ist. Aber wir können vermutlich über einen längeren Zeitraum nicht in die Ukraine zurückkehren – das ist zu gefährlich.“

Gegen Ende unseres Gesprächs fasst die sympathische Ukrainerin ihre ganz persönliche Philosophie in folgenden Worten zusammen: „Wir müssen uns anpassen und wir können nicht alles bekommen, was wir uns erträumen. Ich will mich integrieren! Außerdem muss ich nicht arbeiten, sondern ich will arbeiten. Auch wenn es einmal schwierige Situationen gibt, sage ich mir, dass diese Situation vorübergeht und ich mich unbedingt an einer positiven Lebenseinstellung orientieren will.“ Ihre Worte unterstreicht Tetiana Zakharchenko mit einem ebenso festen, wie charmantem Augenaufschlag. 

Claus Ritzi

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Die Geschichte der Ukraine ist äußerst komplex. Deshalb hier nur skizzenartig ein kurzer Überblick über besondere Ereignisse der jüngeren Vergangenheit. Die Ukraine gehörte bis zur Perestroika 1991 zur Sowjetunion. Nach der Unabhängigkeit des Landes kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen, ob sich die Ukraine außenpolitisch eher den westlichen Staaten oder dem Nachbarland Russland anschließen sollte. 2013 protestierten viele Ukrainer für eine Annäherung an die EU (Maidan-Proteste). Die russland-freundliche Regierung ging hart gegen die Protestierenden vor. Gleichzeitig floh der damalige Präsident aus dem Land. Russland nutzte das Durcheinander und besetzte 2014 die Krim. Gleichzeitig versuchten Kämpfer der Donbass-Region (Luhansk, Donez) mit Unterstützung russischer Militärs sich von der Ukraine loszusagen. Seit Februar 2022 wurden Donezk und Lugansk von Russland als „Volksrepubliken“ anerkannt. Am 24. Februar sind russische Truppen in die Ukraine einmarschiert und haben somit das Völkerrecht gebrochen.