Eine Flucht mit Hindernissen

Olga und ihre Mädchen

Es war ihr Sohn Vlad, der ihr sagte, dass sie zusammen mit ihren beiden Mädchen, der fünfjährigen Asia und der zweijährigen Jasmina aus der Ukraine fliehen sollte. Ihr 21-jähriger Sohn blieb in der Heimat und wartet seit Kriegsbeginn als Reservist auf seinen Einsatz.

 

Schon vor dem Überfall auf die Ukraine hatte die 42-jährige Olga Bilousova-Chubova geahnt, dass es zum Krieg kommen würde. „Aber mir wollte niemand glauben. Russen und Ukrainer waren ja bis zum Ausbruch des Krieges wie Brüder,“ erklärt die überaus freundlich wirkende Frau.

Nachdem ihre Heimatstadt Kiew gerade am Anfang des Krieges heftig bombardiert wurde, verbrachte Olga zusammen mit ihren Kindern drei Nächte neben einem Aufzug in einer nahegelegenen Schule. „Wir dachten, eine Schule werden sie nicht beschießen. Aber schon in der zweiten Nacht haben wir gesehen, wie Raketen unmittelbar neben dem Schulgebäude einschlugen.“ Bei jedem Angriff zitterten Olgas Töchter heftig. Das Kriegstrauma hat sich so tief bei den Asia und Jasmina eingegraben, dass sie auch bei einem gewöhnlichen Gewitter große Angst haben. Weil es in der Schule so bitterkalt war, haben sie doch noch eine Nacht in ihrer drei-Zimmer-Wohnung im neunten Stock verbracht, bevor sie endgültig fliehen konnten.

Allerdings war das Chaos in Kiew gewaltig. „Normalerweise braucht man eine knappe viertel Stunde von unserer Wohnung bis zum Bahnhof. Nun waren wir mit dem Taxi dreieinhalb Stunden unterwegs,“ erzählt Olga und weist darauf hin, dass die Stadt auch deshalb so hoffnungslos überfüllt war, weil viele Brücken aus Sicherheitsgründen gesperrt waren. „Außerdem gab es ständig Passkontrollen, um sicher zu gehen, dass sich unter die flüchtenden Menschen keine Russen gemischt hatten.“

Ein großes Durcheinander

Weil sie wusste, dass es an der Grenze zu Polen zu Wartezeiten von zwei bis drei Tagen kommen konnte, beschloss Olga, mit dem Bus nach Rumänien zu fahren. Da die meisten Leute mit dem Zug oder Auto flohen, war der Bus zunächst unterbesetzt und konnte nicht gleich losfahren. Unter ständigem Sirenengeheul musste Olga mit ihren beiden kleinen Mädchen immer wieder in eine nahe gelegene Unterführung laufen, um dort Schutz zu suchen. Zusammen mit vielen anderen Schicksalsgenossen übernachtete die kleine Familie in der U-Bahn, ehe es ihnen schließlich gelang, am folgenden Tag um 21 Uhr aus Kiev herauszukommen.

In der Zwischenzeit hatte Olga ihren Plan geändert. Es sollte nun mit dem Zug in die nahe gelegene Slowakei gehen. „Ich bin fast verrückt geworden. Der Bahnhof war nicht beleuchtet. Überall hörte man Kindergeschrei. Es war ein einziges Durcheinander. Alle wollten die Züge stürmen. Es war furchtbar. Und den Kinderwagen habe ich einfach zurückgelassen.“

Endlich in der Slowakei angekommen, konnten Olga, Asia und Jasmina fünf Nächte in einem Camp verbringen. In der Zwischenzeit hatte sich Olga an ihren geschiedenen Mann, einen Ägypter gewendet und ihn um Unterstützung gebeten. Vielleicht wäre es eine Option gewesen, in seine Wohnung in Ägypten zu ziehen. Allerdings hatte Olga die Befürchtung, dass sie dort von ihrem Ex kaum finanzielle Unterstützung erhalten würde: „Vielleicht hätte er mir im ersten Monat 100 Euro gegeben. Aber danach nichts mehr.“ Glücklicherweise wurde Olga dann im Internet auf eine russische Frau aufmerksam, die mit einem deutschen Mann verheiratet war und sich im Rahmen einer Hilfsorganisation für ukrainischen Flüchtlingen engagierte. Tatsächlich vermittelte ihr die Russin eine kostenlose Unterkunft bei einem alleinstehenden Mann in Friedberg bei Augsburg.

Unterkunft bei psychisch krankem Mann

„Im Prinzip war das ein wirklich guter Mann“, betont Olga, „aber er war psychisch krank und hatte immer wieder manische Schübe. Einmal war er stundenlang in derselben Pose dagestanden und ein anderes Mal hat er Ketchup an die Decke gespritzt.“ Olga putzte und kochte für ihn. Nachdem sie ihm davon erzählt hatte, dass ihre Mutter wie eine Gefangene in einer von Russen besetzten Stadt lebte, sprach er davon, dass sein Freund zu ihrer Befreiung mit einem Pferd nach Russland reiten würde. Den endgültigen Beschluss diesen Mann zu verlassen, fasste Olga, als sie schließlich auf der Innenseite einer Schranktür ein Poster entdeckte, auf dem zwei Kinder hinter Gefängnisgittern abgebildet waren.     

 

Sie wandte sich erneut an die russische Frau und bat sie, ihr und ihren Kindern zu helfen. Wie es der Zufall will, handelt es sich bei der Russin um die Schwiegertochter von Theresa Wegele, einer Mitarbeiterin aus dem „Helferkreis Odelzhausen“. Sie entschloss sich gemeinsam mit ihrem Mann, der kleinen Familie vorübergehend in ihrem Haus Unterschlupf zu gewähren. „Wir haben Olga dann angerufen und ihr geraten, heimlich zu packen. Wir wussten ja nicht, wie der Mann reagieren würde, wenn wir sie abholen,“ erinnert sich Theresa. Glücklicherweise gelang der Auszug ohne größere Probleme. Über die Nichte des Mannes erfuhren sie, dass dieser tatsächlich krank war und seine Therapie vorübergehend unterbrochen hatte

Dankbarkeit gegenüber Deutschland

Nachdem Theresa erfahren hatte, dass das Landratsamt einige Ein-Zimmer-Wohnungen für Geflüchtete angemietet hat, nahm sie sofort Kontakt auf und konnte für Olga und ihre beiden Mädchen eine solche Unterkunft organisieren. Da Olgas Töchter noch zu jung für den Kindergarten sind, kann Olga noch nicht in einem ihrer beiden ursprünglichen Berufe als Buchhalterin oder Erzieherin arbeiten und bezieht Geld vom Landratsamt. „Ich war überrascht, wie schnell das ging und möchte noch sagen, dass ich allen Deutschen für ihre Hilfsbereitschaft sehr dankbar bin,“ sagt die Ukrainerin sanft lächelnd.     

Claus Ritzi

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Krieg in Europa

Die Geschichte der Ukraine ist äußerst komplex. Deshalb hier nur skizzenartig ein kurzer Überblick über besondere Ereignisse der jüngeren Vergangenheit. Die Ukraine gehörte bis zur Perestroika 1991 zur Sowjetunion. Nach der Unabhängigkeit des Landes kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen, ob sich die Ukraine außenpolitisch eher den westlichen Staaten oder dem Nachbarland Russland anschließen sollte. 2013 protestierten viele Ukrainer für eine Annäherung an die EU (Maidan-Proteste). Die russland-freundliche Regierung ging hart gegen die Protestierenden vor. Gleichzeitig floh der damalige Präsident aus dem Land. Russland nutzte das Durcheinander und besetzte 2014 die Krim. Gleichzeitig versuchten Kämpfer der Donbass-Region (Luhansk, Donez) mit Unterstützung russischer Militärs sich von der Ukraine loszusagen. Seit Februar 2022 wurden Donezk und Lugansk von Russland als „Volksrepubliken“ anerkannt. Am 24. Februar sind russische Truppen in die Ukraine einmarschiert und haben somit das Völkerrecht gebrochen.