Die Andersgläubigen

Gujja

Menschen machen Fehler. Jeden Tag – doch meist ohne weitreichende Folgen. Bei manch anderen dagegen reicht ein einziger Fehler, um einen schattenhaften Fluch auf das ganze Leben zu legen.

Der 1990 geborene Pakistani Gujjar ist so ein Mensch.

Dieser alles entscheidende Fehler war 2005 sein Beitritt zu Laschkare Tybia, einer Unterorganisation des Terrornetzwerks Al Quaida. Damit trat er in die Fußstapfen seines älteren Bruders, der schon vor ihm Mitglied dieser Vereinigung war. Der Bruder galt als Märtyrer, seit er bei einer Operation in Kaschmir getötet worden war. „Nach seinem Tod haben sich die Leute von Laschkare Tybia um meine Familie gekümmert und uns ihre Hilfe angeboten“, erinnert sich Gujjar.

Gleich nach seiner Aufnahme in die Gruppe erhielt er einen einmonatigen Lehrgang im Umgang mit Waffen. 2009 wurde diese Schulung noch um ein weiteres Training für schwere Waffen ergänzt. Trotz dieser Ausbildungseinheiten bestand Gujjars Tätigkeit überwiegend in der Rekrutierung neuer Mitglieder, der Verbreitung von Propaganda sowie dem gelegentlichen Eintreiben von Sachspenden. Obwohl er auch längere Zeiten bei verschiedenen Kampfeinheiten im pakistanischen Teil von Kaschmir verbrachte, war es ihm gestattet, immer wieder in sein Dorf zurückkehren, wo er als Elektriker arbeitete.

Terrorbefehl

Richtig ernst wurde die Situation für den jungen Pakistani nach der Propheten-Karikatur auf der Titelseite des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo. In Pakistan fanden deshalb Ende 2014, Anfang 2015 etliche Protestkundgebungen statt. Natürlich reagierten auch die Führer von Laschkare Tybia – sie hielten Hasspredigten und planten Angriffe auf christliche Kirchen. Für einen dieser Anschläge wurde Gijjar zum Kommandeur ernannt. Die Organisation besorgte ihm einen Journalistenausweis, sodass er unverdächtig eine bestimmte Kirche besuchen und ausspionieren konnte.

An dieser Stelle des Gesprächs wird der ohnehin ruhige junge Mann noch leiser und erzählt: „Ich habe der Predigt des Pfarrers zugehört. Er redete nichts Schlechtes über den Islam. Außerdem habe ich in der Kirche überwiegend Frauen und Kinder gesehen …“ Nach einer kurzen Pause, die den Eindruck erweckt, als ob er diesen Beschluss gerade eben erneut gefasst hat, sagt er: „Nach diesem Erlebnis war mir klar, dass ich diesen Anschlag nicht ausführen kann und auch nicht will.“
Nachdem er seiner Organisation mitgeteilt hatte, dass er keine Explosion in der Kirche herbeiführen werde, wurde er in die Mangel genommen. Sie versuchten ihm klar zu machen, dass er ihnen diese Tat schulde, schließlich habe man Zeit und Geld in ihn investiert. Aber Gujjar, der den Koran gelesen hatte, gab den Führern unmissverständlich zu verstehen, dass er einen solchen Anschlag nur dann ausüben würde, wenn sie ihm einen einzigen Vers zeigen könnten, „ in der steht, dass man Andersgläubige umbringen soll“

Todfeind

Die Organisation räumte ihm eine Bedenkenfrist von eineinhalb Monaten ein. Einen Monat hatte Gujjar keinen Kontakt mehr zur Gruppe. Dann überbrachte ihm ein anonymer Motorradfahrer den Befehl, dass er den Anschlag an Ostern ausführen solle. Als er diesen Befehl erneut verweigerte, machte ihm der Motorradfahrer klar, dass er nun nur noch „auf den Tod warten kann“.

Eine Woche später wurde er von zwei Motorradfahrern beschossen. Gujjar konnte sein Leben nur retten, weil er in dicht bewachsenen Feldern davonrannte. Am darauffolgenden Tag kam ein Anruf von Laschkare Tybia: „Das waren nur Warnschüsse. Beim nächsten Mal bist du dran.“
Nach einem Gespräch mit seiner hochgradig verängstigten Mutter befolgte er ihren Rat und begab sich auf die Flucht nach Deutschland. „Meine Mutter, die eigentlich wegen einer massiven Sehschwäche eine Augenoperation vorhatte, gab mir das dafür gesparte Geld und meinte, ich könne es ihr später von Deutschland aus zurückgeben.“ Um seine Reise zu finanzieren, verkaufte seine mittelständisch situierte Bauern-Familie außerdem noch zwei Kühe.

Deutsche sind freundlich

Gujjars Flucht führte über das Arabische Meer in den Iran und über die Türkei, Griechenland und Ungarn nach Deutschland. Gujjar reiste mit dem Schiff, diversen Autos, dem Zug und auch zu Fuß, insgesamt war er drei bis vier Wochen – größtenteils von Schleppern begleitet – unterwegs. Insgesamt hat die Flucht rund 7 000 Euro gekostet.

An dieser Stelle des Gesprächs geht ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht: „Ich wusste nichts von Deutschland. Nur vom 2. Weltkrieg habe ich gehört. Aber die Deutschen sind sehr freundlich und haben mir geholfen.“ Insbesondere einer Frau aus dem Helferkreis hat er es zu verdanken, dass er schon 2017 Deutsch auf der Stufe A 2 sprechen konnte. In der Zwischenzeit hat er sich auf B 1 verbessert: Von sechs Stufen ist das ein mittleres Niveau.

Auch im Hinblick auf seine sonstige Integration ist Gujjar vorbildlich. Nachdem er zwei Jahre bei McDonald’s gearbeitet hat, ist er mittlerweile als Kommissionierer bei der Metro tätig. Und man mag es kaum glauben: Im August 2019 hat der Mann aus Pakistan – wieder mit Unterstützung seiner Betreuerin aus dem Helferkreis – seinen Führerschein gemacht!

Trotz aller Erfolge hat Gujjar in einem entscheidenden Punkt kein Glück gehabt: Sein erster Asylantrag wurde abgelehnt. Der zweite Antrag ist in Bearbeitung.

Claus Ritzi

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Infos zu Pakistan

In Pakistan leben rund 200 Millionen Menschen – zumeist in ärmlichen Verhältnissen. Offiziell bezeichnet sich das Land als Islamische Republik Pakistan. Rund 97 Prozent der Bevölkerung sind Muslime. Der Islam ist so tief im Staat verankert, dass seit den 80er Jahren auch Aspekte des islamischen Rechts (Scharia) für die Rechtsprechung relevant sein können: Je nachdem welche Regierung gerade an der Macht ist, spielt die Scharia eine geringere oder stärkere Rolle. Generell ist das Land von großer Instabilität geprägt. Ethische Konflikte, Terrorismus und Korruption sind allgegenwärtig. Im Hinblick auf die jüngere Geschichte ist der Streit mit Indien um die Region Kaschmir ein politischer Dauerbrenner. Pakistan ist im Besitz von Atomwaffen. Trotz aller Probleme sollte man auch die positiven Seiten nicht vergessen: Pakistanis gelten als freundlich und sind gute Gastgeber. Das Land verfügt über große kulturelle Reichtümer und hat viele sehenswerte Naturschätze.