Der Überlebenskünstler

Shafci Ahmed Warsame

Ist es möglich, dass ein in Somalia geborener Junge im Alter von nur drei Jahren seine Familie verlässt und inmitten einer Clique von 25 Straßenkindern heranwächst? Wenn man Shafci Ahmed Warsames Geschichte Glauben schenken will, dann hat es sich in seinem Fall genau so zugetragen.

Weil sein Vater als 40-jähriger Soldat im Krieg in Äthiopien gefallen war und er den neuen Mann der Mutter nicht akzeptieren konnte, hat Shafci schon als Dreijähriger beschlossen, seine Familie zu verlassen. Wirklich? Der mittlerweile 22-jährige Somalier schaut seinen Interviewpartner mit dem amüsiert-überlegenen Lächeln desjenigen an, der etwas erlebt hat, das in der Welt der Deutschen so gut wie ausgeschlossen scheint.

Aber mit der Erinnerung ist es nun mal so eine Sache – jeder von uns weiß, dass beim Blick zurück oft nur ein schemenhaftes Bild entsteht, in dessen Zentrum sich allerdings immer ein wahrer Kern befindet.

Der wahre Kern in Shafcis Geschichte dürften seine Erfahrungen als Kinderarbeiter sein: Sein erster Job war der eines Schuhputzers. Danach wurde er als Spüler in einem Restaurant angestellt. Seinen dritten Job fand er mit zwölf Jahren: An einer Kinokasse arbeitete er als Ticketverkäufer. Mit diesem Geld finanzierte der junge Somalier dann seine dreijährige Schulzeit an einer privaten Lehranstalt.

Die Erzählung seiner Kindheit begleitet Shafic mit einem beinahe ununterbrochenen Lächeln, das manchmal in ein kleines Kichern übergeht. Es ist, als ob er dem Zuhörer signalisieren wolle: Na hör mal, so schlimm war das ja alles gar nicht. Und tatsächlich gelangt man zu dem Eindruck, dass Shafic äußerst geschickt darin ist, sich auch in ungewöhnlichen Situationen gut zurechtzufinden. Denn immerhin gelang es ihm nach seiner Schulzeit eine Stelle bei einem Radiosender zu finden. Natürlich nur als ungelernter Hilfsarbeiter – aber immerhin als einer, der es etwas bringen will im Leben. Und der das auch ausstrahlt.

Karrieresprung mit fatalen Folgen

Eines Tages war es dann so weit: Ein Kollege kommt auf Shafci zu und fragt ihn, ob er immer noch eine „richtige Arbeit“ suche. An dieser Stelle seiner Erzählung geht ein breites Grinsen über das Gesicht des jungen Mannes und er erinnert sich ganz konkret: „Es war im September 2014, als ich gefragt wurde, ob ich für das deutsche Fernsehen arbeiten wollte. Das war eine große Karriere – ich durfte für das ZDF in Somalia die Kamera tragen!“ Doch schon mit dem nächsten Satz relativiert er seinen Erfolg: „Ja, es gab gutes Geld. Aber es war kein Spaß. Wir drehten ja mitten im Bürgerkrieg und ich hatte immer wieder Todesangst.“

Dass sein neuer Job nicht ungefährlich war, bestätigte sich 2016. Mitglieder der Terrororganisation al-Shabaab (siehe Kasten) beschuldigten ihn, ein Verräter zu sein – schließlich arbeite er für Ausländer. An dieser Stelle des Gesprächs weicht das Lachen aus dem Shafcis Gesicht und seine Miene verdunkelt sich: „Sie haben mich drei Monate in einen Kerker ohne Licht, ohne Toilette und ohne Bett geworfen. Die Zustände waren grauenhaft.“

Bei einem Angriff kenianischer Soldaten auf Somalia wurden er und seine Mitgefangenen befreit – hätte diese militärische Operation nicht stattgefunden, wäre er wohl jämmerlich und von der Welt vergessen in diesem Gefängnis zugrunde gegangen. Mit dem Tag seiner neu erlangten Freiheit war für Shafci klar: Er würde sein Heimatland verlassen.

Gemeinsam mit acht anderen Männern floh er nach Äthiopien, wo er sich zunächst mit kleineren Jobs durchschlug, um Geld für seine weitere Flucht zu verdienen. Sein Plan war klar: Da er kein Ausweisdokument besaß, musste er sich zuerst einen falschen Pass organisieren – ein Vorhaben, das auch reibungslos klappte.

Doch dann passierte ihm ein folgenschwerer Fehler, der sein Leben vollkommen umkrempeln sollte.

Das falsche Flug-Ticket

Eigentlich wollte Shafci lediglich mit dem Flugzeug in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba fliegen. Während er davon erzählt, dass er dann aber versehentlich ein Flugticket nach Norwegen gekauft hat, muss er vor Verlegenheit laut auflachen: „Nach Norwegen!“

Prustend wie ein Teenager erzählt er weiter: „In Frankfurt war Zwischenlandung und Passkontrolle. Natürlich haben die deutschen Beamten meinen Pass auf den ersten Blick als Fälschung erkannt.“ Der Flug war beendet! In Begleitung eines Polizisten musste er dann eine Bahnfahrkarte nach München kaufen. Von München aus wurde er anschließend in einer Asylantenunterkunft beim Fliegerhorst in Fürstenfeldbruck untergebracht. „Dort haben rund 2 000 Leute auf engstem Raum gewohnt. Ich hatte keine Arbeitserlaubnis. Das war die Hölle.“ Nach sieben Monaten wurde er nach Odelzhausen verlegt, wo er im Januar 2017 einen Antrag auf Asyl stellte, der auch bewilligt wurde.

Nach zwei Monaten als Spüler in einem Restaurant fand der ehrgeizige Somalier eine – auf den ersten Blick – bessere Stelle bei Amazon im Lager. Dummerweise im über 70 Kilometer von Odelzhausen entfernten Erding. Weil die Verbindung mit dem öffentlichen Nahverkehr alles andere als ideal ist, zog es Shafci vor, gleich im S-Bahnhof in Erding zu übernachten. Nach acht Monaten machte ihm dann allerdings der Winter einen Strich durch die Rechnung: „Ich habe zum ersten Mal Schnee gesehen. Es war zu kalt geworden, um dort zu übernachten und ich musste kündigen.“

Eine Frau aus dem Helferkreis vermittelte ihm daraufhin einen Job bei McDonald’s im nahe gelegenen Sulzemoos. Dort arbeitete er bis 2019 an der Kasse. Danach wurde aus der Vollzeitstelle ein Mini-Job, den er samstags und sonntags ausübte. „Während der Woche ging ich für ein Jahr in die Schule, um Deutsch zu lernen,“ erzählt Shafci und lächelt wieder

Wunsch nach Beständigkeit

Nachdem seine Schulzeit abgeschlossen und ihm der Mini-Job zu anspruchslos ist, sucht er sich wieder eine neue Arbeitsstelle. Dieses Mal landet er in einer Großbäckerei in Bergkirchen, wo er häufig in der Nachtschicht von 16 Uhr bis Mitternacht arbeitet. Und wieder das Problem: In der Nacht gab es keine direkte Busverbindung zurück nach Odelzhausen. Shafcis Lösung: „Ich bin nach Schichtende eine halbe Stunde zu Fuß zur S-Bahn nach Dachau gelaufen und habe dort geschlafen, bis die erste S-Bahn nach München Pasing fuhr und bin von dort aus mit dem Bus zurück.“ Natürlich war das auf die Dauer auch keine gute Lösung. Grinsend sagt Shafci: „Ich habe meinem Chef gesagt, dass ich nicht immer im S-Bahnhof schlafen kann. Das ist mir zu gefährlich – ich bin schwarz.“

Und wie soll Shafcis Leben nun weitergehen? Auf diese Frage antwortet der junge Somalier zunächst ganz sachlich und erwähnt, dass er derzeit auf die Verlängerung seines Asyl-Passes wartet. Doch dann kommt wieder sein verschmitztes und strahlendes Lächeln zum Vorschein: „Es ist meine große Hoffnung, dass es mit der Verlängerung klappt. Dann will ich in Olching bei Amazon im Lager arbeiten und mir dort eine Wohnung suchen.“ Ganz abgesehen davon, dass das endlich ein wenig Ruhe und Sicherheit in sein Leben bringen könnte, verbindet Shafci mit dieser Vorstellung noch einen ganz anderen Wunsch. Schließlich hat er nüchtern erkannt, dass es in Deutschland auch in ganz anderer Beziehung vorteilhaft ist, etwas Beständiges zu haben: „Keine Wohnung, keine Freundin.“

Claus Ritzi

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Notizen zu Somalia

Nach dem Sturz des autoritären Regimes unter Siad Barres 1991 herrschte in Somalia ein 20 Jahre andauernder Bürgerkrieg. Clans und Warlords sowie die islamistische Terrororganisation al-Shabaab sorgten für völlige Instabilität – es gab in diesen Jahren keine zentrale Regierung. Im Nordwesten versucht die etwas stabilere Region „Somaliland“ seit 1991 internationale Anerkennung als eigenständiger Staat zu erlangen. Die übrigen Regionen halten an der Idee des gemeinsamen Staates Somalia fest. Seit 2017 ist Mohamed Abdullahi Mohamed Präsident des Landes. Er versucht, das Land auf politischer und wirtschaftlicher Ebene zu reformieren. Mittlerweile gilt Somalia nicht mehr als gescheiterter, sondern „nur noch“ als fragiler Staat. Dennoch bleibt der Alltag der Menschen in diesem bitterarmen Land weitgehend von Auseinandersetzungen geprägt: Die Regierung und internationale Friedensgruppen befinden sich immer noch im Kampf gegen die Terrorgruppe al-Shabaab, die hauptsächlich im Süden Somalias die ländlichen Gebiete kontrolliert.