"Meine Gedanken sind wie Kopfsalat"

Hejratullah Hamid

Die Eltern des 25-jährigen Hejratullah Hamid hatten es als Obstbauern in Afghanistan zu Wohlstand gebracht. Der junge Afghane und seine drei Brüder arbeiteten im Familienbetrieb. „Wir waren glücklich“, sagt Hamid. Bis Ende 2014 ein Brief der Taliban die Familie erreichte.

In dem Schreiben wurde gefragt, ob nicht der ältere Bruder von Hamid die örtliche Taliban-Einheit unterstützen könne. Die Antwort des Bruders lautete: „Ich kann bei euch nicht mitmachen, ich muss meinem betagten Vater bei der Arbeit helfen.“

„Obwohl in meiner Familie nach der Dämmerung eigentlich niemand mehr das Haus verließ, war mein älterer Bruder eines Abends verschwunden und tauchte auch die ganze Nacht nicht wieder auf,“ erzählt Hamid mit leiser Stimme, während sein Blick ins Leere abschweift – ganz so, als ob vor seinem inneren Auge ein Film abläuft. „Dann wurde am nächsten Tag am Tor geklopft. Ich öffnete und sah meinen getöteten Bruder, der einen weißen Schal trug, der mit ganz viel Blut durchtränkt war.“ Die Schüsse waren gezielt in den Kopf und ins Herz abgegeben worden.

Trocken, fast ein wenig abwesend gibt der junge Afghane dann zu Protokoll, dass er erst zwei Tage nach diesem Schockerlebnis im Krankenhaus aufgewacht sei. „Ich habe überhaupt nicht verstanden, was passiert ist.“ Es ist dieser Satz, den Hamid in unterschiedlichsten Variationen immer wieder in das Gespräch einflechtet: „Ich kann das alles nicht verstehen.“

Obwohl ihm eine Ärztin empfiehlt, noch eine Weile in der Klinik zu bleiben, geht Hamid nach Hause. Dort angekommen fragt er als erstes seinen Vater, wo sein großer Bruder sei? „Dein Bruder ist tot“, gibt der Vater zur Antwort. Die Mutter nimmt eine Woche lang keine Nahrung mehr zu sich und weint ständig. Sie spricht auch nicht mehr und kommuniziert nur noch per Handzeichen.

Der Anwerbeversuch

Einen Monat später wird Hamid in einer Mosche von einem Mann angesprochen. Er ist Mitglied der Taliban.

„Wie alt bist du?“
„Ich bin 17 Jahre alt.“
„Kannst du uns helfen?“
„Was soll ich tun?“
„Amerikaner aus Afghanistan rauswerfen.“

Einige Tage später fragt der Taliban seinen Vater, ob er noch einmal mit dessen Sohn reden könnte. Es kommt zu einem erneuten Gespräch, in dem der Taliban versucht, Hamid mit Geld und Waffen für seine Organisation anzuwerben. Doch der junge Mann lehnt ab: „Ich kann niemanden töten. Wir alle sind Menschen.“

Es vergehen zwei Wochen, dann kommt ein Brief. Hamid fasst dessen Inhalt in einem Satz zusammen: „Wenn du nicht mitmachst, töten wir dich.“ Er folgt dem Rat seines Vaters und geht noch am selben Abend im Schutz der Dunkelheit zu Fuß in die etwa 30 Kilometer entfernte Hauptstadt Kabul. Von Kabul aus telefoniert er mit seinem Vater und erfährt, dass die Taliban erneut einen Brief an seine Familie geschickt haben. „Da war mir blitzartig klar, dass ich sofort aus Afghanistan verschwinden muss!“ Während Hamid diese Situation schildert, schaut er seinem Gegenüber direkt in die Augen, so als ob er mit seinem Blick die Unwiderruflichkeit dieses Entschlusses noch einmal unterstreichen wolle.

 

Ein Freund seines Vaters gibt ihm Geld, damit er die erste Etappe seiner Flucht über Pakistan und den Iran in die Türkei finanzieren kann. Hamid erzählt von Fußmärschen in den Bergen und LKWs in denen die Schlepper bis zu 40 Personen „wie Vieh“ hineinquetschten. Von der Türkei aus geht die strapaziöse Reise über Griechenland, Ex-Jugoslawien, Österreich nach Deutschland, wo Hamid zunächst in einem Camp bei Ingolstadt untergebracht wird. Von dort aus telefoniert er regelmäßig mit seinem Vater. Er bittet ihn, niemandem zu erzählen, dass er nun in Deutschland ist. Hamid stellt einen Asylantrag, der jedoch abgelehnt wird. Kurz nach diesem negativen Bescheid erreicht er plötzlich seinen Vater nicht mehr.

Das Taliban-Gericht

Hamid nippt an seiner Cola, wie um sich für das Ende seiner Geschichte zu stärken. Stockend erzählt er, dass er schließlich den Nachbarn seiner Eltern angerufen und sich nach seinem Vater erkundigt hatte und so die ganze traurige Geschichte seiner Familie erfuhr: Offenbar war der Vater so stolz darauf, dass sein Sohn es bis nach Deutschland geschafft hatte, dass er anderen in seinem Heimatort davon erzählte. Hamids Fluchtgeschichte blieb auch den Taliban nicht verborgen und sie inszenierten eine Gerichtsverhandlung gegen die Familie. Der Zweck dieser Farce war klar: Die Bevölkerung sollte begreifen, dass jeder, der den Taliban den Respekt und die bedingungslose Loyalität verweigert, sterben muss. Der Vater wurde öffentlich gehenkt, die Mutter und Geschwister erschossen und das Haus kurze Zeit später abgefackelt. Und wieder kommt Hamids häufigster Satz: „Ich habe das alles nicht verstanden.“

In seiner Verzweiflung – auch über den abgelehnten Asylantrag – beschließt Hamid Deutschland zu verlassen. Er geht nach Frankreich, wo er sechs Monate auf der Straße lebt. Dann stellt er auch dort einen Asylantrag. Nachdem er den Behörden seine Geschichte erzählt hatte, wurde er wieder nach Deutschland zurückgeschickt.

Seit 2017 lebt der offensichtlich traumatisierte Hamid nun in Odelzhausen. Der Helferkreis hat für ihn einen Platz in der Schule organisiert. Mit Hilfe einer Frau aus dem Helferkreis hat Hamid dort die deutsche Sprache so gut erlernt, dass er seine Anliegen weitgehend problemlos selbst formulieren kann. Er ist in psychologischer Betreuung und braucht Schlaftabletten. Aktuell wartet er auf einen neuen Gerichtstermin. Hamid sagt: „Ich weiß nicht, was mit mir geschieht. Ich habe keine Ruhe. Meine Gedanken sind wie Kopfsalat.“

Claus Ritzi

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Notizen zu Afghanistan und den Taliban

Afghanistans Geschichte ist ein Trauerspiel: Seit über 40 Jahren wird das Land während des Kalten Krieges zwischen der damaligen Sowjetunion und den USA zerrieben. Das Ziel der Amerikaner nach dem Attentat auf das World Trade Center am 11. September 2001 bestand darin, zusammen mit den westlichen Alliierten den Terror zu bekämpfen und Afghanistan auf den Wege zur Demokratie zu führen. Diese Ziele wurden nur bedingt erreicht. Zwar wurde Osama Bin Laden als Anführer der Terroristen getötet, von einer Demokratie ist Afghanistan nach Abzug der Amerikaner und ihrer westlichen Verbündeten jedoch weit entfernt. Im Gegenteil: Aktuell sind die Taliban wieder auf dem Vormarsch. Kritiker befürchten, dass sich Afghanistan zu einem sogenannten lost state entwickelt.
Die Intention der Taliban besteht weiterhin darin, eine tugendhafte islamische Gesellschaft aufzubauen. Tugendhaft heißt: Die Frauen müssen Burka tragen, dürfen nicht zur Schule gehen und nicht arbeiten. Musik, Fernsehen, Fotos und Sport sind verboten. Wer nicht zum Gebet in die Moschee erscheint, wird verprügelt. Die Terrororganisation finanziert sich weitgehend aus dem Drogenhandel. Bei Teilen der Bevölkerung ist sie aber durchaus beliebt – auch, weil sie ihre Söldner gut bezahlt. Während die Taliban früher ein reines Schreckensregime führten, haben sie heute die Taktik teilweise gewechselt. In den von ihnen besetzten Gebieten sorgen sie dafür, dass die Bevölkerung beispielsweise gesundheitlich relativ gut versorgt wird.